Expedition Antarktis, Teil 5: Die Geisterstädte Südgeorgiens
Seereise ins Ewige Eis: mit der MS BREMEN in die Antarktis, von Südamerika über die Falklands und Südgeorgien bis an den Rand des einzigen Kontinents ohne Ureinwohner. Fotografin Susanne Baade und Autor Dirk Lehmann waren in der Saison 2012/2013 auf dem Expeditionsschiff. Teil 5: In Südgeorgien schaudert es uns in verlassenen Walfang-Stationen, und wir trinken auf Shackleton
Geisterstadt im Südpolarmeer: Ein Königspinguin watschelt zur Kirche, zwei Robben dösen vor rostigen Schiffen. Die Walfangstation Grytviken in Südgeorgien verfällt
Eine Reisereportage von Susanne Baade (Fotos) und Dirk Lehmann (Text)
Das historische Schwarzweiß-Foto zeigt eine so genannte Flens-Plattform, darauf liegt ein imposanter Blauwal, vor ihm posieren ein halbes Dutzend Männer mit ihren scharfen Messern, bereit das gewaltige Tier aufzuschneiden. Nur der so genannte Blubber, die den Tran enthaltende obere Hautschicht des Wals, interessiert die Arbeiter. Sie werden das Fett auslösen und in riesigen Kesseln abkochen, um daraus Öl zu gewinnen. Es ist ein begehrter Rohstoff im Europa des beginnenden 20. Jahrhunderts. Und weil man mit dem Rest des eigentlich prächtigen Tieres nichts anzufangen weiß, zerrt man den durch die Flensmesser gehäuteten Kadaver einfach ins Meer. Beißender Gestank muss damals in der Luft gelegen – und das Geschrei der Raubmöwen.
Das große Schlachten
Das Foto stammt aus den goldenen Jahren der 1904 auf Südgeorgien gegründeten Walfang-Station in Grytviken. Schon im ersten Jahr wurden hier 184 Tiere verarbeitet, bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges rund 28.000, bis Mitte der 1960er Jahre – kurz bevor der Walfang hier aufgegeben wurde – hat man allein in dieser Station rund 175.000 Tiere getötet. Dann ereilt Grytviken dasselbe Schicksal wie die anderen auf der Inselgruppe, Walfang lohnt nicht mehr. Statt Tran verwendet man nun Erdöl als Schmier- und Brennstoff. Zudem sind die Bestände völlig dezimiert. Konnte man um 1930 noch rund 30.000 Blauwale jährlich fangen, zogen die rund 30 Jahre später in der Antarktis operierenden Walfangschiffe aus aller Welt nur noch 20 Tiere an Bord. Das größte Lebewesen der Erde war nahezu ausgerottet.
Seereise in die Vergangenheit: Expeditionsleiter Stefan Kredel zeigt den Passagieren, wo es hin geht. Den Kurs zu den verlassenen Walfangstationen bestimmt die Brücke. Kapitän Mark Behrend – wie so oft im kurzärmeligen Hemd – gibt die Kommandos für die anspruchsvolle Fahrt in die engen Fjorde Südgeorgiens. Auf den Decks stehen die Passagiere, die allermeisten sind froh, dass die Zeit des Walfangs vorbei ist
Mit solchen Informationen im Kopf verlässt man das Museum von Grytviken und findet den Ort noch unwirtlicher als er im Nebel und bei leichtem Schneetreiben um 0 Grad ohnehin ist. Eine Bucht, eingefasst von schwarzem, schroffen Fels, eine kleine Landzunge, darauf die rostigen Ruinen einer Industrie, die den Stoff für Heldengeschichten geliefert hat, und die heute von den meisten Menschen verachtet wird. Mag der Walfang ursprünglich noch etwas gemein gehabt haben mit dem Mythos vom Kampf des Menschen gegen das Untier, nach 1900 wird er zum industrialisierten Gemetzel – Schiffe harpunieren die arglosen Säugetiere mit Präzisionskanonen, pumpen ihren Fang mit Pressluft voll, damit er nicht untergeht, und schleppen ihn zu Stationen wie Grytviken. Es war die erste ihrer Art.
Das dunkle Kapitel des Walfangs
Auf Südgeorgien wurden mehrere Walfangstationen errichtet, Außenposten der Zivilisation in dieser menschenfeindlichen Welt. Walfänger waren die ersten, die die Antarktis besiedelten. Die BREMEN besucht einige dieser verfallenen Orte. Expeditionsleiter Stefan Kredel zeigt sie auf der Karte. Vorerst wird es keine Anlandungen geben, wegen Einsturzgefahr sind die meisten Stationen gesperrt. So versammeln sich die Gäste am Abend auf den Decks und beobachten, wie der Kapitän und sein Team das Schiff in die Fjorde hinein manövrieren. Kameras richten sich auf bizarre Geistersiedlungen. Sehr still ist es an Bord.
Anfang und Ende: In Grytviken begann der industrielle Walfang auf Südgeorgien, weitere Stationen wurden nach und nach errichtet. Doch nur zwischen den Tanks der 1904 von norwegischen Walfängern gegründeten Siedlung sind Besucher erlaubt. Auf dessen Friedhof wurde der Polarforscher Ernest Shackleton beerdigt – auf Wunsch seiner Frau. Der Kapitän der BREMEN hält eine kurze Rede auf den berühmten Seemann
Nur in Grytviken landen wir an. Zwei halb versunkene Wracks liegen am Ufer, in ihrem Windschatten schlafen Robben. Wir spazieren durch Reihen rostiger Tanks. Auf dem Weg zur Kirche begegnen wir einem Königspinguin, der offenbar dasselbe Ziel hat wie wir. Ein bizarres Bild, wie der einsame Frackträger durch die verlassene Geisterstadt watschelt, in Richtung des Gotteshauses. Die Natur hat sich den Ort zurück erobert.
Südgeorgien hat 3 Einwohner
In der Hochzeit haben hier rund 2000 Menschen gelebt, vor allem Männer. Es gab eine Kirche, ein Kino und mehrere Kneipen. Heute zählt Grytviken nur noch drei Einwohner. Doch selbst die wohnen eigentlich auf den Falklands und kommen nur im Sommer her, dann betreiben sie das Museum, bedienen den Shop und pflegen den Friedhof, an dem sich die Gäste der BREMEN um 11 Uhr versammeln. Kapitän Mark Behrend hält eine Rede am Grab von Ernest Shackleton. Der war zwar ein erfolgloser Entdecker, keine seiner drei Südpol-Expeditionen glückte, aber ein großer Seemann. Nach dem Untergang seines Schiffes „Endurance“ im Packeis der Antarktis ließ er die Mehrzahl seiner Mannschaft auf Elephant Island zurück und segelte im April 1916 mit fünf Matrosen in einem Rettungsboot los, um Hilfe zu holen. 1500 Kilometer fuhren sie durch das stürmische Südpolarmeer und erreichten tatsächlich Südgeorgien. Es ist, als würde man eine Stecknadel im Heuhaufen finden. Im August konnte Shackleton seine auf Elephant Island zurück gelassenen Männer mit einem chilenischen Schlepper retten. Im Januar 1922 starb der bereits zu Lebzeiten berühmte Polarforscher zu Beginn seiner dritten Expedition in Grytviken an einem Herzinfarkt. Seine Frau verfügte, dass sein Leichnam hier beerdigt werde. Wir trinken einen Schnaps auf den berühmten Seefahrer.
Ruhe in Frieden: Industrieruine des Walfangs und das Grab des Entdeckers
Gegen Mittag bricht die BREMEN auf nach Gold Harbour. Wegen der katabatischen Winde, die meist nachmittags aufziehen, war für den heutigen Tag eigentlich keine weitere Anlandung geplant. Aber der Kapitän hat eine E-Mail von einem anderen Schiff erhalten, die Wetterbedingungen seien perfekt. Und noch während die Stimme von Mark Behrend durch die Bordlautsprecher schallt, läuft das Schiff bereits mit voller Kraft voraus in den Südosten Südgeorgiens.
Umtrunk: Was kippt man zum Gedenken an einen Seemann? Genau, Aquavit. Empfangskommitee: Am Strand von Gold Harbour warten Königspinguine und Seeelefanten. Küssende Robben? Die verlassenen Jungtiere suchen Nahrung und nuckeln an allem, was eine Zitze sein könnte – und sei es der Babyspeck eines anderen Heulers
Es wird der heitere Abschluss eines Tages, der viele von uns auch sehr nachdenklich gemacht hat. Denn der düsteren Stimmung eines Ortes wie Grytviken kann man sich kaum entziehen. Doch jetzt reißt der Himmel auf, wir sehen unzählige Königspinguine, und eine große Kolonie von Seeelefanten bevölkert den grauen Strand. Auch einige Beachmaster sind unter ihnen, so nennt man die Bullen, es sind riesige Tiere, die leicht fünf Meter lang und bis zu drei Tonnen schwer werden können. Die meisten schlafen, lassen sich die vernarbte Haut in der durch den Nebel dringenden Sonne wärmen. Einige aber robben mit erstaunlichem Tempo über den Sand. Wir beobachten einen jungen Bullen, groß wie ein Mittelklassewagen, der offenbar seinem Geschlechtstrieb folgt und sich über einige der kaum sechs Wochen alten Robbenbabys wälzt. Ein fürchtenswert aussehendes Schauspiel, das für die viel kleineren Tiere erstaunlich glimpflich ausgeht.
Augen wie Espresso-Untertassen
Gerade die bezaubern die Gäste. Kurz nach der Geburt verlassen die Weibchen ihren Nachwuchs und verschwinden wieder ins Meer. Die Neugeborenen müssen lernen, selbst klar zu kommen und robben anfangs auf auf alles und jeden zu, der ihnen Mutterersatz sein könnte. Sie sehen uns an aus schwarzen Augen, groß wie Espresso-Untertassen. Und wir nehmen schnell reißaus, um den Sicherheitsabstand einzuhalten.
Schlafnasen, Schreihälse und neugierige Jungtiere: Gold Harbour wurde von Robbenjägern so benannt, weil in der Abendsonne die Felsen so golden leuchten
Am späteren Nachmittag kräuselt sich aus nahezu heiterem Himmel das Meer. Ein katabatischer Wind. Doch er bleibt eine Brise, kein Schiffshorn muss tuten, um die Anlandung zu beenden. Noch auf dem Strand und bei der Überfahrt im Zodiac zurück zum Schiff erzählen wir uns, was wir an Land gesehen haben. Viele Passagiere sind völlig geflasht von ihren Erlebnissen in Gold Harbour. Und werden vom Kapitän zurück geholt auf die Planken der Tatsachen: „Ein Sturm zieht auf. Um die höchsten Wellen zu umgehen, werden wir einen Umweg fahren. Dennoch wird sich das Schiff bewegen…“
Sie kommen als Freunde: Einst war der Strand von Gold Harbour ein Reiseziel vor allem für Robbenjäger, heute besuchen nur noch Touristen die keine Scheu zeigenden Seeelefanten