Expedition Antarktis, Teil 1: Aufbruch ins Südpolarmeer
Seereise ins Ewige Eis: mit der MS BREMEN in die Antarktis, von Südamerika über die Falklands und Südgeorgien bis an den Rand des einzigen Kontinents ohne Ureinwohner. Fotografin Susanne Baade und Autor Dirk Lehmann waren in der Saison 2012/2013 auf dem Expeditionsschiff. Teil 1: Abfahrt in Montevideo, die Mannschaft stellt sich vor, und das Schiff wendet für den Sonnenuntergang
Das Licht auf dem Weg zum anderen Ende der Welt: Sonnenuntergang über dem Südatlantik
Der Kapitän, so tönt es jetzt aus den Bordlautsprechern, werde das Schiff wenden lassen, damit auch die Gäste auf der Steuerbordseite diesen Sonnenuntergang sehen können. Das hätten wir von einer Expedition in die Antarktis wohl am wenigsten erwartet – einen Kurswechsel für den Sonnenuntergang! Doch dann dreht die BREMEN, und wir, die wir bisher auf der falschen Seite saßen, erkennen plötzlich, was gemeint ist: Wir sehen Farben, wie sie zauberhafter nicht sein können. Als Postkarte wäre der Anblick schlimmer Kitsch, doch live ist er von atemberaubender Schönheit. Und so beginnt unsere Reise in die Antarktis mit einem Moment, der meist am Ende einer Liebesgeschichte steht, mit dem Candle-Light-Dinner. Es wird eine Reise ins Licht.
Solche Farben rechtfertigen ein romantisches Manöver: Der Kapitän lässt die BREMEN wenden
Wir erfüllen uns einen Reise-Traum. Fotografin Susanne und ich machen eine kleine Weltreise. Fünf Monate sind wir unterwegs. Wir erleben Einsamkeit in Kanada als wir in einer Hütte in den Rocky Mountains wohnen, wir reisen in die Zeit der Christusritter-Vergangenheit Portugals, wir spüren Spiritualität in einem buddhistischen Kloster unweit des Mount Everests, wir kommen den Tieren ganz nah auf der australischen Insel Kangaroo Island, und wir begeben uns auf ein Abenteuer, von dem wir schon lange träumen: eine Seereise in die Antarktis.
Sehnsucht nach einer Welt in Weiß
Dabei ist es schwer zu sagen, woher sie eigentlich kommt die Sehnsucht nach dem Ewigen Eis. Susanne ist eine Halb-Portugiesin, sie fängt schon an zu frieren, sobald die Temperaturen unter 25 Grad fallen. Ich bin ein begeisterter Outdoor-Mensch, liebe die Natur, aber nicht die Kälte. Und doch üben die Bilder gewaltiger Tafeleisberge eine große Faszination auf uns aus. So gehen wir voller Erwartung in Montevideo an Bord der BREMEN. Vielleicht ist es einfach die Sehnsucht nach einer Welt in Weiß, sauber, strahlend, wie unberührt.
Ausfahrt auf den Rio de la Plata: Mit der BREMEN geht es von Montevideo bis zur Antarktischen Halbinsel. Der Sturm über der Drake-Passage – auf der Wetterkarte rot eingezeichnet – wird bereits weiter gezogen sein, wenn wir den Süden erreichen
Es ist ein kleines Kreuzfahrtschiff, Platz für rund 150 Passagiere auf 111 Metern Länge und sechs Passagierdecks, maritim eingerichtet. Schnell hat man sich orientiert auf dem Schiff, das uns bis zur Antarktischen Halbinsel bringen wird. Die geplante Route führt erst in Richtung der Falkland Inseln, dann nach Osten mit Ziel Süd-Georgien und von da über die South-Sandwich-Islands bis zur Antarktischen Halbinsel. Auf dem Rückweg müssen wir dann die für ihre heftigen Stürme berüchtigte Drake-Passage und um das Kap Horn bis nach Ushuhaia, wo unsere Kreuzfahrt endet.
Vier Streifen und viel Verantwortung
Aber jetzt haben wir erst abgelegt. Am ersten Abend stellt sich die Crew vor. Wir lernen die Menschen kennen, mit denen wir in den nächsten drei Wochen das Leben teilen. Kapitän Mark Behrend stimmt uns ein auf die Reise: In der Antarktis gebe es zwei Jahreszeiten, Winter und Sommer. Ersterer ist eine extreme Zeit mit Temperaturen um 50 Grad unter Null und Stürmen mit Windgeschwindigkeiten bis zu 300 Km/h. Ab Mitte Oktober sorgt der Sommer dafür, dass sich der Eisgürtel rund um den Kontinent verkleinert, Schiffe können anlegen, zwei Monate lang wird die Sonne nicht untergehen. Und doch kann es auch im Sommer schneien, können plötzliche Winde das Meer aufwühlen. Deshalb sei der beschriebene Reiseverlauf eher als Plan anzusehen, im Katalog heiße es ausdrücklich: „Je nach Wetter- und Eisbedingungen entscheidet der Kapitän.“ Der Mann mit den vier goldenen Streifen auf den Schultern seines immer kurzärmeligen, immer weißen Hemdes macht klar, dass er die Verantwortung trägt. „Es ist mein Job, mitunter unpopuläre Entscheidungen zu treffen.“
Hochlage: Der Heli-Landeplatz wird meist von Sonnenliegen zweckentfremdet
In der Vorbereitung zu dieser Reise haben wir Berichte gesehen, die aus unserer Ehrfurcht vor der Antarktis auch Angst hätten machen können. Doch die BREMEN fährt bei wenig Wind und nur leichter Dünung aus dem Mündungsgebiet des Rio de la Plata hinaus in den Südatlantik. Am nächsten Morgen kommt sogar die Sonne heraus. Und wir, die wir uns mit Merino-Wäsche von Icebreaker und Daunenjacken von Mammut gegen die vermeintliche Kälte des Subkontinents gewappnet haben, sitzen im T-Shirt und ohne Strümpfe auf dem Achterdeck, sehen auf die Doppellinie, die die Schrauben durch das Meer ziehen, und frühstücken.
Die BREMEN: Entspannung im Club, Frühstück auf Deck 5, Pool auf Deck 7 und darüber ein Kapsturmvogel
Verglichen mit den flugzeugträgergroßen Kreuzfahrtschiffen, die in den letzten Jahren auf die Weltmeere gelassen wurden, ist die BREMEN ein Bötchen. Hier gibt es keine Eislaufbahn und keine Kletterwand, es gibt kein Musical-Programm und keine Wellness-Abteilung. Aber man kann sich von Bianca Linnemann die Haare schneiden lassen, abends spielt Alejandro Graziani am Flügel. Tagsüber bereiten uns die Lektoren auf eine Region vor, die jährlich von nur rund 20.000 Menschen besucht wird. Und schon bald werden wir Vorlesungs-Junkies, erfahren über das Gestein der Südhalbkugel, studieren Vögel, Pinguine und Wale, lernen mehr über Meeresströmungen und die Menschen, die als erste versuchten, in diese Welt vorzudringen. Vor allem Ernest Shackleton, der große tragische Held wird unser ständiger Begleiter.
Neugierige Seevögel
Eine Kreuzfahrt in die Antarktis ist eine ultimative Seereise – es gibt Tage, an denen man nichts sieht als Wasser, Himmel, Horizont. Kein Schiff weit und breit, kein Land. Nur Albatrosse, Möwen und Kapsturmvögel segeln hinter uns her. Von Uli Erfurth, dem Bord-Biologen und Vogel-Experten, erfahren wir, dass es tatsächlich die Lust an der Abwechslung ist, die die Vögel treibt. Endlich ist mal was los auf der weiten See, und die Tiere rasen im Sturzflug über die Wellen hinter unserem Schiff her, oft fehlen nur wenige Millimeter, Flügelspitzen streifen die Gischt. Dann wieder fliegen sie gemächlich neben dem Schiff her, äugen in die Gesichter der Passagiere. Die Vögel sind neugierig.
Commandant und Conferencier: Kapitän Mark Behrend stellt die Mannschaft vor und lädt die Passagiere ein, ihn – wann immer es die Situation erlaubt – auf der Brücke zu besuchen. Das lassen wir uns nicht zweimal sagen
Ein moderner Kapitän muss vor allem ein Entertainer sein. Morgens informiert er über Wind und Wetter, mittags isst er mit den Gästen und setzt sich immer zu anderen. Abends steht er dann mit dem Mikrofon in der Hand auf der kleinen Bühne in der Bar der BREMEN, im „Club“, und stellt das Team vor. Auf einem modernen Kreuzfahrtschiff sind die Seeleute längst in der Minderheit, Küchenchef, Hotel-Direktor und Kreuzfahrtdirektorin spielen eine ebenso wichtige Rolle. Das ist nicht neu. Es verblüfft aber, dass so viele Mitarbeiter des Hotels BREMEN aus Österreich stammen, jener Seefahrer-Nation in den Alpen. Am Ende der Präsentation offenbart der Kapitän dann seine Neigung zu nachdenklichen, gar philosophischen Tönen und rät den Passagieren, die Uhren abzulegen, zu sich selbst zu finden und die Welt da draußen nicht nur durch den Sucher der Kamera zu betrachten.
Unterhaltung und Navigation
Auf der BREMEN gilt das Prinzip des offenen Schiffs. So lange keine komplexen Manöver gefahren werden, bzw. wenn die Tür offen ist, dürfen die Passagiere auf die Brücke kommen. Ein Privileg, das die Mannschaft jederzeit auch wieder rückgängig macht. Wir nehmen die Einladung gern an. Der Kapitän erklärt, dass das Schiff einen Haken schlagen wird, um den Ausläufern eines Sturmtiefs auszuweichen. Das habe einem anderen Kreuzfahrtschiff zuletzt übel mitgespielt hat, bis zu zehn Meter hoch waren die Wellen. Der Kapitän zeigt auf der Wetterkarte in welche Richtung die rot markierten Schlechtwetterzellen ziehen, und dass die Wellen immer noch bis zu fünf Meter hoch werden können. „Das muss ich meinen Gästen nicht antun“, sagt Behrend. Irgendwie ist ein Kapitän auch der liebe Gott seines Schiffs. In keinem anderen werden einer Führungskraft so weitreichende Rechte eingeräumt – er kann Passagiere einsperren und vermählen, Toten- und Trauscheine unterschreiben.
Genaue Beobachtungen und geplante Kursänderung: Die BREMEN soll einer Schlechtwetterzelle ausweichen
Das Wetter beschäftigt die Passagiere. Immer wieder bilden sich kleine Gruppen vor der am Eingang zum Club aufgehängten Wetter-Karte. Es treibt sie die Sorge nicht nur um das eigene Wohlergehen, vor allem um das Gelingen der Reise. Eine der Besonderheiten dieser Expeditionskreuzfahrt ist, dass man in schwarzen Gummibooten an Land fährt, Vogel-Felsen und Pinguin-Kolonien besucht, britische Dörfer und ehemalige Walfang-Stationen. Doch nur bei einigermaßen ruhiger See werden die Zodiacs eingesetzt. Noch ist das Wetter perfekt. Doch die bange Frage lautet: Wird es so bleiben?
Als wir in der Panorama-Lounge mit Parka und Gummistiefeln ausgestattet werden, damit wir bei einer „nassen Anlandung“ – man lässt sich von der Wulst des Schlauchboots ins Wasser rutschen – mit trockenen Füßen an Land gehen können, ist die Stimmung gelöst. Alle Crew-Mitglieder strotzen nur so vor Zuversicht. Später stehen wir draußen an Deck. Ein hauchzarter Streifen Rosa trennt den stahlblauen Abendhimmel von einem Ozean, der weit und blau vor uns liegt wie Tinte. Es ist kühler geworden, und wenn wir sprechen steht uns in dünnen Wattewölkchen der Atem vor den Gesichtern. Mit einer Geschwindigkeit von 15 Knoten nähert sich die BREMEN der Antarktis.
Still liegt der Südatlantik. Wie ein See