MS HANSEATIC: Expedition Kurilen und Kamtschatka – die „Verklärung des Herrn“
MS HANSEATIC: Expedition Kurilen und Kamtschatka – die „Verklärung des Herrn“. Anlandung auf einer geheimnisvollen Halbinsel mit unaussprechlichem Namen. Was hat es mit diesem besonderen Ort auf sich, will Lektor Steffen Graupner wissen? Er findet heraus, dass Vitus Bering hier nach Trinkwasser gesucht hat, obwohl er gewarnt war vor den Drachen – rund um Preobraschenija
von Steffen Graupner (Text und Foto)
MS HANSEATIC: Expedition Kurilen und Kamtschatka. Auf spiegelglatter See gleitet MS HANSEATIC in die Preobraschenija Bucht hinein. Die Instrumente der modernen Seefahrt liefern Kapitän Axel Engeldrum die notwendigen Informationen, die er braucht, um seine Premierenfahrt als Kapitän genießen zu können: Sonar an Bug und Heck gibt Auskunft über die jeweiligen Wassertiefen, Radar zeigt Strukturen oberhalb der Wasseroberfläche an, auf den Monitoren der Brücke flimmern elektronische Seekarten und ergänzen die exzellenten papiernen russischen Seekarten. Per Internet kommen mehrfach täglich aktuelle Wetterberichte (und ggf. Eiskarten) herein, Funk verbindet uns mit den umgebenden Küstensiedlungen und Satellitentelefon mit der ganzen Welt. Warme Herbstsonne steht auf dem Schiff und lässt es weiß strahlen, taucht die Tundra ringsum in ein rot-gelbes Farbenmeer. Wir sind zum Vergnügen hier – und ein absolutes Vergnügen ist diese Anlandung in einer entlegenen Bucht der Tschuktschenküste für Passagiere und Mannschaft.
Ganz gewiss kein Vergnügen und auch keine Entdeckerlust bringen vor 288 Jahren die St.Gabriel als erstes Schiff in die Preobraschenija Bucht. Im Gegenteil: Es ist die pure Not, die Kapitän Vitus Bering zwingt, seine geradezu legendäre Vorsicht ein wenig zu lockern und sich der Küste in der Bucht weiter anzunähern, als ihm lieb ist. Frühe Herbststürme im August 1728 hatten die Topsegel zerfetzt und einen Mast gebrochen. Bering sucht in der Bucht nun einige Tage ruhigeres Gewässer für die notwendigen Reparaturen. Vor allem aber benötigt er frisches Wasser für seine Mannschaft. Nur ein einziges Fass mit fauligem Trinkwasser ist ihm verblieben. Ohne Wasser kann er die Expedition nicht fortsetzen. Wasser ist nun nicht mehr nur einer von vielen wichtigen Faktoren für den Erfolg der Expedition, sondern für Vitus Bering geht es ums Überleben.
Sein „Kapitänskollege der Jetzt-Zeit“ kann auf der HANSEATIC Wasser zum Trinken, zum Duschen, zum Abwaschen, für die WC’s in ausreichender Menge über die Meerwasserentsalzungsanlagen an Bord auf Knopfdruck erzeugen lassen. All das steht Vitus Jonassen Bering nicht zur Verfügung. Er muss Wasser an Land finden. Weit nach Norden hat er seine Männer geführt, ins Unbekannte. Männer, die ihm vertrauen und für die er die Verantwortung trägt. Keine Seekarte kann ihm Küstenlinien und Untiefen zeigen – keine Landkarte geeignete Landestellen mit Flüssen voll Süßwasser aus dem Hinterland. Gerade diese weißen Flächen auf den Karten des Nordpazifiks zu füllen, ist er ja von seinem Zaren, Peter I., ausgesandt. Mit Ornamentik und Phantasie haben die Kartographen des 16. und 17. Jahrhunderts die unbekannten Gegenden der Welt dekoriert. „Here be Dragons!“ Drachen? Vielleicht Drachen, vielleicht Seeungeheuer. Bering kann sich darum nicht scheren. In diesem Augenblick des 6. August 1728 ist er kein gefeierter „Kolumbus des Zaren“, zu dem ihm die frühe Medienmaschinerie des Zarenhofes hochstilisiert hatte, sondern schlicht ein Kapitän in Bedrängnis.
Von dieser hoch dramatischen Geschichte, die sich in der Preobraschenija Bucht zugetragen hat, und von Vitus Berings Besuch in der Bucht, weiß ich im Moment, da ich mit einigen Passagieren auf der warmen weichen Herbsttundra sitze und die Berge im Hinterland erkläre, noch nichts. Für uns ist es bislang nur eine schöne Bucht. Und wir kämpfen erstmal mit dem Wort „Pre… Pro… Pri… Probrisch…“, puuuh, es kostet einige Anläufe, ehe wir „Preobraschenija“ richtig aussprechen können. „Und was bedeutet das nun?“, wollen die Gäste wissen. Da muss ich passen, das Wort kenne ich weder aus dem Schulrussisch noch von meinen ausgedehnten Reisen über Tschukotka und Kamtschatka. Also flugs das russisch-deutsche Wörterbuch gezückt, doch auch dort: Fehlanzeige! „Aber Sie können das schon für uns herausfinden, oder?“ lassen die neugierigen Passagiere nicht locker. Klar kann ich. Schließlich sind wir ein 5-Sterne-Schiff! Und außerdem: Meine Neugier ist geweckt.
Ich frage an Bord herum, zunächst die Lektorenkollegen, die mir ausnahmsweise mal nicht weiterhelfen können. Hmmm. Ich brauche dringend einen russischen Muttersprachler! Zum Glück sind in der Mannschaft der HANSEATIC ein Dutzend Nationalitäten vertreten und so finde ich bald meinen Muttersprachler: Alexander Gorlenko. Er kommt aus Moskau und ist am dortigen Konservatorium zum gefeierten Pianisten ausgebildet worden und erfreut mit seiner Kunst allabendlich unsere Passagiere am Flügel. Alexander poliert erstmal meine Aussprache: „Preobreschhhhhhenija“! Dann zuckt er, ganz Kind der säkularisierten Sowjetunion, bedauernd mit den Schultern: „Ich kann Dir auch nicht sagen, was das bedeutet, aber ich glaube, meine Großmutter hat das Wort manchmal verwendet und dann könnte das irgendwas mit Religion zu tun haben.“ Aha.
Doch das hilft mir schon ein wenig weiter. Eine Hallenser Freundin studiert Theologie und ist für ein Semester als erste Frau überhaupt in das Priesterseminar St.Petersburg aufgenommen worden. Also schnell von Bord eine Email an Ulrike gesandt und am nächsten Morgen ist die Antwort schon auf dem Bildschirm: „Preobraschenija heisst im Deutschen ‚Verklärung des Herrn‘, lateinisch Transfiguration und griechisch Metamorphosis und wenn Du mehr wissen willst, schau einfach bei Wikipedia nach.“ Dann gibt mir Ulrike noch mit auf den Weg, ganz die angehende Frau Pastorin: „Und vergiss nicht, gut lutherisch, den Originaltext nachzulesen, Lukas 9, Vers 28-36!“
Den Rat befolge ich, suche mir an Bord eine Bibel und lese im Lukas-Evangelium nach: „Nach diesen Reden nahm Jesus Petrus, Johannes und Jakobus beiseite und stieg mit ihnen auf einen Berg, um zu beten. Und während er betete, veränderte sich das Aussehen seines Gesichtes und sein Gewand wurde leuchtend weiß. Und plötzlich redeten zwei Männer mit ihm, es waren Mose und Elija; sie erschienen in strahlendem Licht und sprachen von seinem Ende, das sich in Jerusalem erfüllen sollte. …dann kam eine Wolke und warf einen Schatten auf die Jünger. Sie gerieten in die Wolke hinein und bekamen Angst. Da rief eine Stimme aus der Wolke: ‚Das ist mein auserwählter Sohn, auf ihn sollt ihr hören.‘”
Zur theologischen Deutung muss ich dann doch nochmal Ulrike kontaktieren und sie erklärt mir fernelektronisch: „Theologisch ist die Sache insoweit spannend, als dass die Jünger auf dem Berg – wohl der Berg Tabor – erstmals über die Gottessohnschaft erfahren. Vorher macht Jesus ein Geheimnis aus sich, niemand weiß, dass er Gottes Sohn ist. Zur Zeugenschaft ruft er Moses und Elija auf den Berg als Verkörperung von Gesetzesordnung und Prophetie des alten Bundes. Dann tritt Gott hinzu und macht Jesus in seinem NICHT SCHAUBAREN glänzenden Antlitz offenbar für die Jünger. Interessant ist auch, dass die Ostkirchen diese Verklärung viel mehr feiern als wir im Westen, und zwar jedes Jahr am 6. August. In der russischen Orthodoxie ist sie auch ein festes Motiv der Ikonostase.“
Die Vermutung liegt also nahe, dass jemand in der Preobraschenija Bucht ein göttliches Erlebnis gehabt hat, das ihn verklärt hat oder den verklärten Jesus hat sehen lassen. Befördert wird diese Vermutung durch zwei Gräber, die wir auf einem Hügel 50 Meter über der Bucht finden. Dazu befrage ich meine tschuktschischen Freunde im Nachbarort Nunligran und erhalte von ihnen die Antwort: „Nein, davon ist uns nichts bekannt. Du weißt ja, dass die Tschuktschen seit alten Zeiten den Brauch hatten, ihre Toten auf Hügel zu legen und je schneller der Körper dann von den Raben und Füchsen aufgebrochen und verzehrt wurde, desto schneller konnte der Verstorbene seine Reise ins Jenseits antreten. Die Russen haben uns dann ab den 1930er Jahren diese alten Riten verboten und normale Grabstätten erzwungen. Einer unserer alten Fischer wollte, wenn er schon nach russischem Ritus bestattet wird, zumindest auf dem Hügel seiner Vorfahren beerdigt werden und das ist ihm und später seiner Tochter gestattet worden.“
Das hilft mir als Erklärung für Preobraschenija also nicht weiter. Dafür kommt Tage später aus Nunligran ein P.S. per Email, ein eingescannter Auszug aus einem Wörterbuch der tschuktschischen Ortsnamen.
Die Zeilen übersetzen sich in: „Preobraschenija – Bucht am Kap Atschen, Gebiet Prowidenija. Entdeckt und benannt durch Vitus Bering im Jahre 1728 als Meerbusen der Heiligen Verklärung Christi. In dieser Bucht, so schreibt F.P.Liedtke, entnahm Bering Wasser in der kleinen von ihm entdeckten Bei, von welcher aus er in geringer Entfernung bis direkt zu der Straße gelangte, die heute seinen Namen trägt.“ Prima, jetzt kann ich zielgerichtet weiter suchen! Vor einigen Jahren haben wir mit Freunden in Halle die Internationale-Georg-Wilhelm-Steller-Gesellschaft gegründet, um den Arzt und Naturforscher Steller zu ehren, der Vitus Bering auf seiner Zweiten Kamtschatka Expedition 1733-43 begleitete.
Steller gehört zu jenen verdienstvollen und leider in Vergessenheit geratenen Naturforschern der Aufklärung. Ihm verdanken wir Entdeckung und Beschreibung der Stellerschen Seekuh, des Stellerschen Riesenseeadlers, die erste Beschreibung des Lands Kamtschatka und viele naturkundliche und ethnografische Studien mehr. Spiritus Rector unserer Steller-Gesellschaft ist Dr. Wieland Hintzsche, der in den 1990er Jahren in den St.Petersburger Archiven die Tagebücher Stellers fand und seitdem mit seinem Kreis Gelehrter zur Keimzelle der modernen Bering-Forschung wurde. Ein Anruf bei Wieland bestätigt Berings Besuch der Bucht auf dessen erster Kamtschatka-Expedition 1728-30 und am gleichen Abend landen noch einige von Dr.Hintzsche eingescannte Seiten in meinem Postfach: „The Journal of Midshipman Chaplin – A record of Bering’s first Kamchatka Expedition“. Druckfrisch liegt diese Monographie aus Kopenhagen auf Wielands Hallenser Schreibtisch.
Tschaplin war Berings Bootsmann auf der Kamtschatka-Expedition und hat alle Ereignisse des Tages im Logbuch des Schiffes festgehalten. Genau so, wie es die Brückenoffiziere der HANSEATIC noch heute tun. Tschaplin schreibt am 6. August 1728 in das Schiffslogbuch: „Zehn Uhr fuhren wir in eine kleine Bucht zwischen den Bergen und warfen den Anker. Elf Uhr wurde ich an die Küste gesandt mit sechs Mann in einem Beiboot, um die Position der Bucht festzustellen, die Tiefe zu vermessen und, vor allem, frisches Wasser zu finden. 13 Uhr entdeckten wir, drei Werst vom Schiff die Küste entlang, einen Ort mit Hütten Einheimischer. Und ich fand frisches Wasser: Einen Bach mit Schmelzwasser aus den verschneiten Bergen. 17 Uhr kehrte ich zum Schiff zurück und berichtete, was ich sah. 20 Uhr wurde ich wieder an die Küste geschickt und nach einer Stunde hatten wir 22 Fässer mit frischem Wasser aufgenommen. Wir hoben den Anker und segelten weiter.“
Eine akute Sorge Berings war also erstmal gebannt, die Mannschaft hatte frisches Wasser und konnte ihre Fahrt fortsetzen. Aus späteren Eintragungen in Tschaplins Logbuch lerne ich, dass Bering mit dem in der Preobraschenija Bucht aufgenommenen Wasser durch die später nach ihm benannte Bering-Strasse gesegelt ist. Für seinen Zaren Peter I. war die Frage einer möglichen Landverbindung zwischen Asien und Amerika eine Herzensangelegenheit. Gottfried Leibniz hatte bei seinem letzten Treffen mit Peter I. 1716 in Bad Pyrmont diese Frage aufgeworfen vor dem Hintergrund der Diskussion über den Ursprung der Menschheit und wie der Mensch in die Neue Welt gelangt sei. Eine Antwort darauf zu erlangen, sandte Peter 1719 die beiden russischen Geodäten Iwan Jewreinow (1694–1724) und Fjodor Luschin (1695–1727) an den östlichen Rand seines Reiches. Ihre Expedition blieb jedoch erfolglos. Und so unterzeichnete Peter der Große 1724 den Befehl zu einer weiteren Expedition gen Osten und schickte Vitus Bering auf den langen Weg.
Obschon Bering mit seiner Durchfahrung der Meerenge zwischen Asien und Amerika die Existenz einer Landbrücke widerlegte, konnte er die Frage von Peter und Leibniz nicht letztgültig beantworten. Nebel verwehrte ihm die Sicht auf die Küsten Amerikas und Asiens und so kehrte er auf 67° nördlicher Breite, schon weit in der Tschuktschensee im arktischen Ozean, vermeintlich unverrichteter Dinge, und doch so erfolgreich, um. Wenige Jahre später, 1733-43, leitete Bering die Zweite Kamtschatka-Expedition, mit einer ähnlichen und deutlich erweiterten Fragestellung. Die „Beringstrasse“ wurde dann erst ein Jahrhundert später aus den Auswertungen seiner Logbücher der Ersten Kamtschatka-Expedition „entdeckt“ und nach ihm benannt.
Das aufgenommene Frischwasser aus der von ihm und uns besuchten Bucht hat Bering auf seinem Weg 1728 so geholfen, dass er der Bucht dankbar den Namen des am 6. August in der Orthodoxie gefeierten Tages der „Verklärung des Herrn“ gab.
MS HANSEATIC: Expedition Kurilen und Kamtschatka. Hier finden Sie weitere Informationen zur aktuellen Reise. Und dieser Link führt zur Expedition Kamtschatka und Kurilen 2017 mit MS BREMEN.